Johanna ist 21 Jahre alt und wohnt in Köln. Sie studiert Sozialwissenschaften. Im Herbst 2020 hat sie ein Auslandssemester in Grenoble, Frankreich gemacht. Dieser Text ist ein Tagebucheintrag.
„Ich glaube, in keinem anderen Jahr habe ich so viel Zeit vor dem Bildschirm verbracht wie in diesem. Wenn das, was meine Eltern mir als Kind gesagt haben, dass wenn ich zu viel Zeit vor dem Fernseher sitze, meine Augen viereckig werden, wahr wäre, würde man heute meine Augen nicht mehr von Legosteinen unterscheiden können. In keinem anderen Jahr habe ich so wenig Menschen von Angesicht zu Angesicht gesehen. In keinem anderen Jahr habe ich mich so wenig geschminkt und mir meine liebsten Kleidungsstücke für besondere Gelegenheiten angezogen wie in diesem. In keinem anderen Jahr konnte ich so oft ausschlafen. In keinem anderen Jahr hatte ich so wenig Verpflichtungen. All das, obwohl meine Erwartungen an das Jahr, dass nicht nur die Zwanziger dieses Jahrhunderts, sondern auch meine eigenen Zwanziger eingeläutet hat, sehr hoch waren.
Doch dann kam Corona. Dieses Wort – „Corona“. Es ist nicht nur ein Virus, der damit beschrieben wird, sondern es stellt gleichzeitig eine Art Zeitalter dar. Man rechnet schon fast nicht mehr mit Zahlen, sondern spricht nur noch von den Zeiten vor Corona, als noch alles gut war, von der Zeit Corona selbst, durch die wir alle durchmüssen, und von einer Zeit nach Corona, auf die man all die Hoffnungen projiziert. Entgegen meines Optimismus stellte sich jedoch heraus, dass die Zeit „Corona“ viel länger unseren Alltag prägt als ich anfangs erwartet habe.
Dabei empfand ich den ersten Lockdown als noch nicht all zu schlimm. Das liegt auch daran, dass ich mich in einer privilegierten Position befinde, in der ich mir keine finanziellen Sorgen machen muss. Das Einzige, was sich geändert hat, ist dass sich mein kompletter Alltag seit dem 16. März 2020 online abspielt. Seien es online Veranstaltungen der Uni, Home-Office-Arbeitstage, Zoom-Meetings mit Freund*innen oder mit politischen Gruppen. Der persönliche Kontakt fand außerhalb meines Haushaltes nicht statt. Natürlich war es zu Beginn sehr ungewohnt, jedoch genoss ich stellenweise sogar eine Art von Entschleunigung. Eine Entschleunigung meines Alltags. Denn zum ersten Mal seit Langem hatte ich das Gefühl, dass die Zeit mir nicht mehr davonläuft und ich nicht versuchen muss, ihr hinterherzurennen, um sie einzufangen. Zum ersten Mal seit Langem hatte ich sehr viel Zeit. Zeit, um mich mit mir zu beschäftigen und mich und meine Lebenssituation zu reflektieren. Sicherlich hatte auch der Frühling eine besänftigende Wirkung, denn so konnte man die schöne Zeit des Jahres, in der die Tage wieder anfingen länger zu werden und die Vögel anfingen zu zwitschern, vollkommen auskosten.
Der Sommer und die mit ihm folgenden Lockerungen machten die erste Welle ebenfalls erträglicher. Denn wenn ich jetzt an den Sommer zurückdenke, kommt er mir fast vor, wie jeder andere. Vielleicht liegt es daran, dass wieder sehr viel möglich war oder es liegt daran, dass man im Vergleich zu der jetzigen Situation jede Zeit mit weniger Restriktionen und mehr Sonnenstrahlen als das Paradies ansieht.
In der zweiten Hälfte des Jahres und eigentlich im Nachhinein mitten im Beginn der zweiten Welle begann ich mein Auslandssemester und reiste nach Frankreich. Hier verlief die erste Zeit ganz unbeschwert und die Angst vor Corona war viel ferner als sie es eigentlich hätte sein sollen. Es brauchte nicht mal zwei Wochen in Frankreich und ich erkrankte an Corona. Nichtsdestotrotz wollte ich meine Laune nach meiner Genesung nicht trüben lassen und versuchte das Beste aus meinem Auslandssemester zu machen. Die Leichtigkeit und mein Optimismus hingen wahrscheinlich auch damit zusammen an, dass der Spätsommer gefühlt bis Oktober anhielt.
Doch mit der Kälte kam auch der Lockdown, sodass ich mich seit Ende Oktober im Lockdown befinde. In Frankreich noch um einiges strenger mit kompletter Ausgangssperre, da man nur eine begrenzte Zeit am Tag raus durfte und für jeden Schritt, den man vor die Haustür setzte, einen Grund angeben musste.
Inzwischen bin ich wieder in Deutschland und ein neues Jahr ist angebrochen. Der Lockdown jedoch ist geblieben und er hinterlässt seine Spuren an jedem einzelnen Tag. Die positiven Seiten eines Lockdowns, welche ich noch im März gesehen hatte, fallen mir nun immer schwerer nachzuvollziehen. Die Tage sind ohnehin schon kurz und viel zu dunkel und man sehnt sich nach Abwechslung, Wärme und Licht.
Sonst konnte man dies durch soziale Kontakte kompensieren, aber dies ist, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen, gar nicht mehr möglich.
Neben der düstereren Jahreszeit frustrieren auch die Infektions- und Todeszahlen, welche sich konstant auf einem hohen Niveau halten. Die Sehnsucht danach, dass sich die Einschränkungen endlich lohnen und man mit einer Besserung belohnt wird, ist groß. Solidarität mit den Mitmenschen ist wichtig und unabdingbar für unsere Gesellschaft, daher sind die Restriktionen auch notwendig. Dennoch darf die Solidarität keinen Halt gegenüber Menschen machen, die psychisch unter dieser intensiven, langen, zweiten Welle leiden. Denn was bringt uns physische Gesundheit, wenn wir die mentale komplett außer Acht lassen?“

